Der schmale Pfad entlang der Schlucht unterhalb des mittlerweile arg verfallenen und heruntergekommenen Michi’s Art Village am Rande Ubuds ist zugewuchert und verschmutzt. Ein wenig ratlos stehe ich im fahlen Licht der hinter grauen Wolken untergehenden Sonne vor dem sich auf den Weg ergießenden Wasserfall, der es mir unmöglich macht, ihn trockenen Fußes zu passieren.
Es fällt mir schwer mir vorzustellen, dass ich hier vor sechs Jahren einige der besten Fotoshootings meines Lebens hatte.
Halbnackte Mädchen, die sich vor einem einer sanften Dusche gleichenden herabplätschernden Wasserfall auf dem von Hibiskusblüten bedeckten Pfad im warmen Abendlicht geräkelt haben.
Allerdings erinnere ich mich auch noch an etwas anderes, nämlich an mich, der ich weinend und verloren stundenlang in eben jener Schlucht saß, sinnierend, meditierend, planlos, wohin mein Leben im Allgemeinen und meine Reise im Konkreten weitergehen sollte. Ich wusste damals noch nicht, dass mich mein Weg wenig später nach Indien und zu meiner persönlichen kleinen Erleuchtung führen sollte. Auch konnte ich noch nicht ahnen, wie sich mein Leben in den folgenden Jahren ordnen und zum Positiven wandeln sollte und ich eine liebevolle Partnerin finden würde.
Zeit also, einen Haken hinter das Kapitel zu setzen.
Seit ich vorgestern zum ersten Mal und nach viel zu langen sechs Jahren wieder einen Fuß auf Bali gesetzt habe, scheine ich den Geistern der Vergangenheit hinterherzujagen. Ich habe das Bedürfnis, Lydi all die Orte in und um Ubud zu zeigen, an denen meine Erinnerungen so sehr hängen.
Der Yoga Barn sieht noch so aus als wäre ich gestern das letzte Mal dort zum Ecstatic Dance gewesen. „Mein“ Tattoo-Studio in der Goutama Street, bei dem ich mir immerhin zwei Tattoos habe stechen lassen, hat es scheinbar nicht geschafft, dafür ist die Straße jetzt voller netter kleiner Läden und Restaurants. Auch das Dragonfly Village und das Cafe Pomegranate oben in den Reisfeldern sind noch da und es ist alles so schön wie ich es in Erinnerung hatte. An machen Läden und Homestays hängen Schilder mit „We survied!“, andere sind hingegen leer und für immer geschlossen. So ganz schadlos sind die letzten beiden Jahre an Bali also nicht vorbeigegangen, aber es ist auch bei weitem nicht so schlimm wie ich insgeheim befürchtet hatte.
Obwohl die Rezeptionisten unseres kleinen Hotels in den Reisfeldern nicht müde werden uns darauf hinzuweisen, selbst beim Mofafahren eine Maske zu tragen, weil angeblich übereifrige Polizisten nur zu gern unvorsichtige Touris deswegen zur Kasse bitten, lassen wir den lästigen Lappen bereits am zweiten Tag ganz weg. So wie die meisten anderen Menschen hier auch, ganz gleich ob Einheimische, Urlauber oder Hängengebliebene. Die Maske gilt übrigens auch als „auf“, wenn sie unterm Kinn hängt, aber das ist mir genauso zu blöd. Ich bin ohnehin noch von unserer Anreise mit den unendlich vielen, dämlichen, unlogischen und undurchsichtigen Hygiene-Regeln bedient. Eine unausrottbare Eigenschaft der Spezies Mensch scheint es zu sein, Regeln, und seien sie noch so sinnlos, ab einem bestimmten Punkt nicht mehr zu hinterfragen, sondern einfach zur Gewohnheit werden zu lassen. Sofern das Leben dadurch einigermaßen kalkulierbar und vermeintlich sicherer weiterläuft. Wir Deutschen treiben es damit gern auf die Spitze, die Asiaten, zumindest die im Südosten, scheinen mir da ein wenig mehr zum Laissez-faire zu neigen. Aber genug zum Virus, der hat uns alle bereits genug Lebenszeit gekostet und ist schließlich auch dafür verantwortlich, dass ich erst jetzt wieder auf der Insel der Götter gelandet bin.
Wo war ich? Ach ja, beim Post-Covid-Bali. Nun, vielleicht liegts an meiner naiv-rosaroten Brille, die ich auch diesmal von Beginn an wieder auf habe und die dafür sorgt, dass mich hier alles und jeder anlächelt, ich mich weder am infernalen Brunftgeschrei liebestoller Frösche noch am mitternächtlichen Hahnengekrähe störe, ich wohlwollend über den nach wie vor recht präsenten Hang der Balinesen, es mit der Abfallentsorgung nicht so arg genau zu nehmen hinwegsehen kann und ich fröhlich hupend im allgemeinen Verkehrschaos mitschwimme.
Auch bin ich zum ersten Mal während der Regenzeit hier.
Es ist zwar nicht alles so grün und prall wie ich es erwartet hätte, aber das heißt vor allem in Ubud gar nichts, denn hier ist es immer dschungelgrün, alles wuchert, wächst, blüht, kriecht, fruchtet, summt und brummt, dass es eine wahre Freude ist. Es ist genau so heiß wie ich es gerne aushalte und mag und wenn das T-Shirt zu sehr vom strömenden Schweiß durchzuweichen droht, hat uns zumindest in den letzten beiden Tagen ein kurzer, heftiger, nachmittäglicher Regenschauer erlöst, nach dessen Abklingen es sofort wieder mollig warm wird.
Und jetzt habe ich noch gar nicht vom Essen gesprochen. Beim Tippen dieser Zeilen habe ich bereits ein halbes Dutzend Nasi Gorengs, diverse Mie Gorengs und so manch andere Leckerei, die die balinesische Küche hergibt, mit großem Genuss vertilgt. Zu meiner großen Erleichterung auch in ihren jeweiligen vegetarischen Varianten, das ist nämlich neu meinen letzten Aufenthalten gegenüber. Damals musste noch das ein oder andere Hühnchen und so mancher Fisch für mich dran glauben.
Aber das sind schon wieder die Geister der Vergangenheit. Die ich nach meinem Besuch in der Schlucht bei Michi’s Art Village hinter mir zu lassen gelobe.
Diesen Entschluss fasse ich, während ich auf der untersten Stufe einer schmalen Treppe sitze, zu deren Füßen sich ein kleiner Tempel schmiegt. Ich bin der einzige Mensch hier weit und breit. Als ich mich gerade an den Aufstieg machen will, bemerke ich eine uralte Frau, die plötzlich aus dem Gebüsch heraustritt, auf dem Kopf ein riesiges Bündel voll mit Zuckerrohr. Sie hält kurz auf meiner Höhe, schenkt mir ein zahnloses Lächeln und brabbelt ein paar mir unverständliche Sätze. Dann lacht sie erneut, tritt an mir vorbei und macht sich an den Aufstieg aus der Schlucht hinaus. Den Weg fand ich beim Abstieg bereits beschwerlich, ganz ohne Bündel auf den Schultern (zumindest keinem, das man sehen könnte).
Ich blicke der Alten kurz hinterher und springe schließlich auf. Ich hole sie ein und deute auf ihrer Zuckerrohr-Last. Sie murmelt wieder ein paar Worte, aber dann lacht sie erneut und reicht mir das Paket. Als ich es schultere strauchle ich, so schwer ist es.
WIE schwer will ich mir aber auf keinen Fall anmerken lassen.
Als wir oben sind bin ich schweißgebadet. Die alte Balinesin nimmt mir das Gewicht wieder von den Schultern und drapiert es sich auf dem Kopf als enthalte es nur ein paar federleichte Daunen. Dann verschwindet sie lachend im Gebüsch und hätte ich sie nicht unten in der Schlucht fotografiert hätte ich mir sicherlich auch problemlos einreden können, dass es sie gar nicht gab.
Einer meiner Lieblingsschriftsteller, Helge Timmerberg, schreibt in seinen Büchern oft, dass die Seele bei Fernreisen ein paar Tage braucht, um den Körper einzuholen.
Meine scheint jetzt angekommen zu sein.
Es wird Zeit für neue Abenteuer.
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