Kapitel 1:
Als das Raumschiff an einem späten Sommerabend im Garten von Levi Hauser landete, bekam das niemand mit. Weder Levi Hausers Nachbarn, die Allbrights, die mit Freunden auf der Veranda saßen und deren Aufmerksamkeit einem vollbeladenen Grill und einer gut gefüllten Kühlbox mit Bier galt, noch die Millers von gegenüber, die sich ungeachtet der jetzt wieder angenehmen Temperaturen in ihr klimatisiertes Wohnzimmer zurückgezogen hatten und auf einem überdimensioniertem Flachbildschirm eine mexikanische Dokusoap verfolgten.
Und wenn schon das ansonsten so verlässliche System nachbarschaftlicher Überwachung versagte, waren sowohl nationale als auch internationale Behörden erst recht chancenlos. Keine von ihnen hatte das Eintreten des unbekannten Flugobjekts in unsere Atmosphäre registriert. Nirgends ertönte ein Alarm, es wurde kein Kaffee verschüttet oder entsetzt auf Monitore geprustet. Präsidenten, Diktatoren und sonstige Machtinhaber konnten, je nachdem wo sie sich zum betreffenden Zeitpunkt auf dem Planeten Erde aufhielten, entweder selig weiterschlummern oder ihrem Tagwerk nachgehen, ohne dass sie etwas von diesem geschichtsträchtigen Moment mitbekommen hätten.
Und der Vollständigkeit halber: es gab auch keinen verträumten Hobby-Astrologen, der zur richtigen Zeit sein Fernrohr auf das schimmernde Flugobjekt gerichtet hatte und im weiteren Verlauf dieser Geschichte zu Weltruhm kommen wird.
Das Raumschiff setzte nahezu lautlos auf dem akkurat geschnittenen Rasen von Levi Hauser auf, knickte mit seinen vier ausgefahrenen Stützen ein paar Halme um und brannte mit seiner großen, mittig unter dem Rumpf angebrachten Bremsdüse ein kreisrundes Loch in den Boden.
Es ergab sich, dass zu just selben Zeit ein großer Güterzug über die Gleise der Bahnstrecke, die direkt an Levi Hausers Grundstück vorbeiführten, donnerte und das Zischen und Rauschen jener Düse übertönte.
Aber selbst ohne den Zug hätte vermutlich niemand etwas bemerkt. Weil es nämlich hinlänglich bekannt ist, dass es völlig unwahrscheinlich und damit unlogisch ist, dass ein unbekanntes Flugobjekt an einem Freitagabend im eigenen Garten oder dem des Nachbarn landet.
Und deshalb schenkte Levi Hauser den aktuellen Vorgängen draußen vor seiner Terrassentüre keine Beachtung, kniete auf seinem Betschemel und war ganz und gar in ein Gebet vertieft.
Dass er allein lebte, war für ihn keine Entschuldigung, sich gehen zu lassen, auch nicht an einem Freitagabend nach getanem Tagwerk und mit einem freien Wochenende in Aussicht. Deshalb kniete Levi Hauser vollständig bekleidet, mit schwarzer Hose, weißem Hemd und seinen zwar abgetragenen, aber blitzsauberen Anzugschuhen an den Füßen auf dem Schemel. Nur auf die Krawatte hatte er verzichtet. Dafür war sein Hemd bis zum obersten Knopf geschlossen. Das spannte am Hals und kratzte, weil es ihm eigentlich eine Nummer zu klein war, aber er ertrug das unangenehme Gefühl stoisch, nicht zuletzt, weil es ihm niemals in den Sinn gekommen wäre, während des Gebets auch nur die kleinste Nachlässigkeit zu dulden.
Beim Leser entsteht an dieser Stelle vermutlich gerade ein Bild von Levi Hauser aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Informationen. Als da hätten wir bereits den akkurat geschnittenen Rasen, das freitagabendliche Beten allein zu Hause anstelle mit den Nachbarn zu Grillen und nicht zuletzt Levi Hausers Kleidung. Der Autor möchte es allerdings nicht versäumen, auf die Tätowierungen unseres Protagonisten hinzuweisen. Diese sind recht zahlreich und bedecken beide Arme von Levi nahezu gänzlich. Sie zeigen ineinander verschlungene Drachen, schmelzende Uhren und allerlei mystische Symbole, keines davon jedoch ausdrücklich christlicher Natur. Auch ist Levi nicht so alt wie der Leser vielleicht vermuten würde, knabenhafte fünfundzwanzig Winter hatte er erst auf der Uhr und Mädchen wie Frauen, zumindest jene, die ihn noch nicht näher kannten, drehten sich manchmal auf der Straße nach ihm um. Kurzum, rein optisch hätte man den jungen Mann problemlos herzhaft ins Mikrofon einer angesagten Boyband singend und auf einer Bühne tanzend verorten können. Wohingegen sein gegenwärtiger Geisteszustand ihn zweifellos eher einem staubigen Senioren-Kaffee- und Betkränzchen zugeordnet hätte. Auch wenn das beileibe nicht immer so gewesen war.
Doch kehren wir zurück in den Garten. Dort löste sich gerade der Rauch der Bremsdüsen auf und verflüchtigte sich in der langsam abkühlenden Abendluft. Das interstellare Gefährt hatte die Form eines runden Kegels, der auf dem Kopf steht. Die Spitze zeigte nach unten und wurde von der bereits erwähnten Bremsdüse gekrönt, oben war sie gerundet wie eine flache Halbkugel. Es gab keine sichtbaren Fenster, Apparaturen, Verzierungen oder Beschriftungen. Das Objekt schien aus einem Guss zu sein, bis sich plötzlich an einer von außen betrachtet völlig beliebigen Stelle an der Seite eine Öffnung bildete. Eine ovale Luke öffnete sich geräuschlos und schwang elegant nach oben. Und ebenso geräuschlos schob sich aus der eben entstandenen Tür eine Rampe gen Rasen, deren Glieder sich Stück für Stück aus seiner Spitze heraus materialisierten und schließlich den Boden berührten. Außer ein paar Vögeln, die gespannt in einem Gebüsch hockten, einer kleinen Schlange unter der Veranda und ein paar eben erwachten Glühwürmchen wurde niemand Zeuge dieses eleganten und spektakulären Vorgangs. Die Gestalt, die jetzt über die just entstandene Türschwelle trat, reckte als erstes ihre wahrhaft formidable Nase in die Höhe, schnupperte ausgiebig und lächelte dann zufrieden. Dann streckte sie sich, berührte ein paar Sekunden lang mit den Fingerspitzen ihre glänzenden Stiefel, wobei es in ihrem unteren Rücken auffällig knackte, das erste echte Geräusch, das der Neuankömmling von sich gab. Als er sich fertig gedehnt hatte, schritt der Besucher die Rampe hinab und marschierte schnurstracks über den Rasen auf die hölzerne Veranda, hielt kurz vor der Fliegengittertür inne, hatte die Hand bereits an deren Griff und schien es sich im letzten Moment anders zu überlegen. Anstatt die Türe einfach zu öffnen, klopfte er dreimal mit den Fingerknöcheln an den Türrahmen. Und wartete.
Im Inneren des Hauses und zwei Räume weiter beendete Levi Hauser gerade sein Gebet, indem er sich mehrfach bekreuzigte. Und vernahm tatsächlich das Klopfen. Etwas verwundert erhob er sich, pustete gewissenhaft die beiden Kerzen aus und schloss die Tür des zum Gebetsraum umfunktionierten Kinderzimmers hinter sich. Als er das Wohnzimmer durchschritt, erkannte er bereits durch das Fliegengitter die Silhouette eines Mannes auf seiner Terrasse.
Levi Hauser war kein ängstlicher Mensch im eigentlichen Sinne. Er fürchtete sich nicht etwa, dass der Fremde ihm etwas anhaben könnte. Seine Angst galt allenfalls der Möglichkeit, dass GOTT ihm eine Verfehlung nachtragen könnte und die Läuterung in Form eines von ihm gesandten Einbrechers erfolgen könnte. Nicht dass er sich einer Verfehlung bewusst gewesen wäre. Er lebte fromm, befolgte die Gebote, richtete sein Leben ganz nach den Regeln der Gemeinschaft aus.
Jetzt.
Beziehungsweise, seit 27 Monaten.
Was die Zeit davor betraf… Da war Levi Hauser sich nicht ganz so sicher, ob er bereits genug Buße geleistet hatte, und ein kleiner Restzweifel hatte sich hartnäckig in seinem Hinterkopf festgesetzt und behauptete, dass Jehova ihm noch immer zürnte.
Ob der klopfende Unbekannte etwas damit zu tun hatte, nun, er würde es gleich herausfinden. Ihm blieb auch gar nichts anderes übrig, denn das Gebot der Gastfreundschaft wagte er auf gar keinen Fall zu ignorieren. Also fasste er sich ein Herz, gab sich einen Ruck und trat einen weiteren Schritt auf den Fremden zu.
„Guten Abend…“ sagte Levi zögerlich. „Was machen Sie in meinem Garten und wie kann ich Ihnen helfen?“
„Guten… Abend!“ ertönte es zögerlich von draußen, und Levi konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sein Gegenüber die Worte zwar tadellos und akzentfrei aussprechen konnte, sich aber seiner Bedeutung nicht recht im Klaren zu sein schien.
„Ich bin auf Besuch hier und, nun, ich denke ich bin ein wenig vom Weg abgekommen.“
Die Stimme klang warm und weich und durchaus symphytisch und veranlasste Levi, die Fliegentür zu öffnen und einen Blick auf seinen unerwarteten Gast zu werfen.
Wenn Levi diese Geschichte später immer und immer wieder seinen Enkeln und Urenkeln erzählen würde, konnte er sich nicht ein einziges Mal erinnern, was genau ihm in den folgenden Momenten tatsächlich durch den Kopf geschossen war. Er wusste nur, dass er den unbändigen Drang verspürte, auf die Knie zu fallen, die Hände zu falten und in ehrfürchtiger Demut zu erstarren. Und so sehr Käpt’n Jay später immer wieder bestreiten würde, dass er auch nur den geringsten Einfluss auf Levi ausgeübt hatte, schwor Levi sich bis an sein Lebensende, dass sich an jenem Abend im verschlafenen Nest Harpers Ferry im Bundesstaat West Virginia tief im Süden der Vereinigten Staaten von Amerika seine erste und einzige göttliche Offenbarung ereignet hatte. Und zwar in Form von Käpt’n Jehova Archibald Uranus, Forschungsreisenden der galaktischen Föderation, stellvertretendem Leiter des interstellaren Archivs der Völkerkunde und Besitzer einer der größten Sammlungen von Raumschiff-Quartetten im ganzen Universum.
Eine Erklärung für Levi Hausers seltsames Verhalten ließe sich vielleicht im Äußeren des Raumschiffkapitäns finden: Vor Levi stand ein gepflegter Mann, den die meisten Beobachter vermutlich auf ein Alter Ende fünfzig, Anfang sechzig geschätzt hätten, der über eine beachtliche Statur verfügte und dessen herausstechendstes Merkmal ein weißer, perfekt gestutzt Bart war, und hätte der Käpt’n noch eine Sonnenbrille getragen, er hätte ohne Probleme für einen jener teuren Promi-Friseure als Werbemodel für hippe, ältere Herren eingesetzt werden können. Kurzum: das äußere Erscheinungsbild des Käpt’n war zwar das eines stilsicheren, milde ergreisten und weltmännischen Dandys. Es hätte, unter bestimmten Voraussetzungen, die nötige geistige Verwirrung und religiöse Hingabe vorausgesetzt, aber eben auch als die Inkarnation eines großväterlich anmutenden Gottes hergehalten. Und genau als solchen nahm der perplexe Levi Hauser den Käpt’n in jenem Moment wahr.
Weshalb er seinen widerspenstigen Knien nachgab, sich vor Käpt’n Jay auf den Boden warf und die Stirn auf das schroffe Holz der Veranda presste.
„Ich versichere Dir, das ist überhaupt nicht nötig“ sagte Käpt’n Jay und brachte das Kunststück zustande, bei diesen Worten gleichzeitig bescheiden beschämt und im selben Augenblick gleichgültig und abgebrüht zu wirken, als würde ihm derlei Verhalten allenthalben entgegengebracht.
Verlegen rappelte sich Levi Hauser auf und klopfte sich den Staub von seinen Knien.
„Wie kann ich Ihnen denn weiterhelfen?“ fragte er den Fremden und erst jetzt fiel sein Blick auf das seltsame Objekt in seinem Garten, das reglos zwischen den Beeten hockte, einer gigantischen, silbernen Träne gleich. Levi Hauser schlug die Hände über dem Kopf zusammen und öffnete den Mund für einen stummen Schrei.
Diesen Moment wählte der Käpt’n für Seine Antwort: „Nun“ sagte er und räusperte sich, “ich bin auf der Suche nach einem gewissen Joshua, auch Jesus gerufen. Ich habe Grund zur Annahme, dass er hier vor einiger Zeit abgestürzt ist. Zumindest haben wir sein Raumschiff geortet. Und jetzt wird es Zeit für ihn, nach Hause zu kommen.“
Fortsetzung folgt…
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