Das Credo

13. 04. 2021 | Erkenntnisse | 0 Kommentare

Vor mir liegt der dunkle, wenig einladend wirkende See. Es nieselt leicht.
Und es ist 8 Uhr morgens, eine höchst unanständige Zeit, wenn es nach mir geht.
Ich habe mein halbes Leben darauf hingearbeitet um NICHT mehr zu solch unseeligen Unzeiten aufstehen zu müssen.
Und doch bin ich hier.
Ich ziehe meine dicke Winterjacke noch etwas fester zu und verkrieche mich so gut es geht in deren großer Kapuze. Skeptisch drehe ich mich um. Die drei Mädels, mit denen ich hier bin, ziehen sich bereits aus. Also nicht ganz, aber bis auf ihre Badeanzüge. Die Frauen lachen und scherzen, fast so als wäre es eben nicht  8 Uhr morgens, als würde es nicht regnen und als würde kein unangenehm kalter Wind vom See her pfeifen.
Tief in mir drin weiß ich bereits, dass ich jetzt unmöglich einen Rückzieher machen kann. Ich will auf keinen Fall das Gesicht vor den drei Schönheiten verlieren. Und im Grunde bin ich ja genau deswegen hier. Um meinem wichtigsten Credo gerecht zu werden. Das besagt, dass man alles im Leben einmal ausprobieren muss ehe man sich dazu ein Urteil bilden kann.

Diesem Leitsatz folgend habe ich bereits nackt Yoga in einem Aschram praktiziert, mich den verrücktesten Halluzinogenen ausgesetzt, bin auf Wellen, Motorrädern und allerlei Tieren geritten und habe die unaussprechlichsten Dinge gegessen. Doch eins habe ich mein ganzes Leben lang vermieden wann immer es ging: mich Kälte auszusetzen. Ich bin ein Warmduscher durch und durch. Der König der heißen Duschen und aufgedrehten Heizungen. Ich hasse es zu frieren. Ich werde einer verschneiten, malerischen Almhütte mit angeschlossener Skipiste immer Sonne und Strand und Palmen vorziehen. Da stecke ich einfach ganz tief drin in meiner Komfortzone und das ist auch gut so.
Bis zu jenem Tag als Lydi zusammen mit ihrer Freundin Christina anfing, sich morgens zum Baden zu treffen.
Und zwar täglich.
Der Oktober war schon halb durch und das was die beiden da machten konnte man getrost als Kaltbaden bezeichnen. Die Seen, an denen sie sich trafen, wiesen nur noch niedrige zweistellige Temperaturen auf. Und trotzdem kam Lydi jedes Mal freudestrahlend und hochmotiviert nach Hause, während ich mich gerade grummelnd aus dem Bett in Richtung Kaffeemaschine schleppte.

Ich gestehe: am Anfang hätte ich keine hohe Wette gehalten, dass die beiden das länger als eine Woche durchhalten würden. Zu entbehrungsreich, zu extrem erschien mir das Vorhaben und ich gestehe auch, dass ich zunächst auch ein wenig spöttisch auf die ganze Operation herabblickte.
Aber die Mädels hielten durch.
Und mehr noch, ich bemerkte erstaunliche Veränderungen an Lydi (welche genau verrät sie Euch in ihrem eigenen Bericht).
Und diese Veränderungen schienen sich schon nach sehr kurzer Dauer eingestellt zu haben. War am Ende doch was dran an dem ganzen Hype um`s Kaltbaden? Ein bisschen kannte ich mich ja schon aus. Wim Hof, der berühmte „Iceman“ war mir schon länger ein Begriff. Und auch die Dinge die er angeblich zu tun im Stande war. Aber bis dato wäre mir im Traum nicht eingefallen, je auf dessen Spuren zu wandeln. Doch als die Frauen nach zwei Wochen immer noch bei der Sache waren, eine motivierende Instagram-Story nach der anderen rausfeuerten und von kaum etwas anderem mehr sprachen als ihren Badeausflügen, spürte ich die Zeit für mein Credo gekommen. Ich musste das ausprobieren um mitreden zu können.

Das Universum hat einen schrägen Sinn für Humor und neigt in meinem Fall des Öfteren zu einer albernen Dramatik, deshalb stehe ich jetzt eben nicht  in warme Morgensonnenstrahlen getaucht und von mildem Herbstwinden umweht am See für meinen ersten Kaltschwimmversuch. Sondern es ist, wie eingangs beschrieben, regnerisch, windig und saukalt. Und das noch bevor ich auch nur einen Millimeter nackter Haut in den See gehalten hab. Ich könnte jetzt auch zuhause im warmen Bett vor mich hinmümmeln.

Was zum Teufel habe ich mir dabei gedacht?

Nun, mit ausschlaggebend für meine Entscheidung war neben meinem Credo auch die Behauptung, Kaltwasserbaden helfe beim Abnehmen. Und wenn mir eins fast ebenso schwer fällt wie mich der Kälte auszusetzen, dann ist es das Abspecken. Die Zeiten, in denen ich essen konnte was ich wollte ohne zuzunehmen sind längst Geschichte. Das Sixpack auch, das ist einem bequemen Onepack gewichen. Und wenn ich ehrlich bin, schleppe ich immer an die 5 Kilo zu viel mit mir herum, die ich trotz vernünftiger Ernährung nicht runter kriege. Okay, ich mache derzeit kaum Sport, aber Schwimmen, das ist doch auch Bewegung, oder? Und wenn ich dabei durch das kalte Wasser auch noch schneller abnehme, dann reicht das allemal um mich zu ködern. Zumindest hat sich das am Vorabend noch alles recht verlockend angehört, aber jetzt, mit Blick auf den verregneten See, verfluche ich mich innerlich heftig für meinen Vorstoß.

Bevor die Mädels sich ausgezogen haben, haben wir gemeinsam geatmet. Christina hatte eine App am Start, über die uns ein enthusiastischer Wim Hof mit unangebrachtem Elan durch eine Atemübung führt. Um den Körper mit Sauerstoff aufzupumpen. Damit hält er nämlich angeblich die Kälte besser aus. Und tatsächlich, mein Kopf fühlt sich hinterher sehr leicht an und es flirrt ein wenig vor meinen Augen. Ein bisschen so, als hätte ich gekifft.
Interessanter Effekt.
Aber es hilft alles nichts, die Stunde der Wahrheit naht. Zögerlich schäle ich mich aus meinen Klamotten, während die drei Damen, heute ist zum ersten Mal auch Nina mit dabei, am Strand bereits den Pferdeschritt praktizieren. Der Pferdeschritt ist ebenfalls eine Übung von Wim Hof, man steht dabei breitbeinig und dreht den Oberkörper von einer zur anderen Seite, während man jeweils leicht in die Knie geht und den Arm nach außen schwingt, als würde man Luft weg boxen. Sieht ein wenig komisch aus, aber ich kenne Männer, die würden vermutlich auch Eintritt bezahlen, um die Übung von meinen Begleiterinnen vorgetanzt zu bekommen.
Ich will mich also nicht beschweren.

Als ich nackt bis auf die Badehose bin, tapse ich durchs kalte, feuchte Gras in Richtung Ufer, während der Nieselregen für ausreichend Bewässerung von oben sorgt. Die Mädels sind bereits im Wasser. Sie schreien kurz, dann lachen sie laut. Und sie lachen noch immer, während sie bereits schwimmen.
Scheint ja gar nicht so schlimm zu sein.
Bis zu den Knien ist es das auch nicht. Als mein Unterleib unter Wasser ist packt mich hingegen schon das erste mal der Fluchtinstinkt. Aber zum Umkehren ist es zu spät. Die Badehose ist ja schon nass. Also zwinge ich mich weiter zu gehen und merke, wie sich mein Atem beschleunigt. Ich hechle wie ein Hund, mein Körper will wohl auch mit der Atmung zittern. Und da mache ich dann das scheinbar einzig richtige und zwinge mich, langsam und gleichmäßig zu atmen. Lydi wird mich später aufziehen, weil ich mich dabei wohl wie eine alte Dampflock angehört haben muss, aber fürs erste gelingt es mir tatsächlich, ins etwa 10 Grad warme Wasser einzutauchen und ein paar Schwimmzüge zu tun. Und dabei bemerke ich zu meinem ehrlichen Erstaunen: sooo kalt ist das plötzlich gar nicht mehr. Faktisch gesehen ist es natürlich trotzdem saukalt, aber eben nicht so, dass ich aus einem Schock heraus ohnmächtig werde oder hyperventiliere.

Eine weitere spannende Erkenntnis stellt sich erst hinterher ein: Die paar Minuten im Wasser kommen mir vor wie eine Ewigkeit. Das dürfte daran liegen, dass mich die ungewohnte Situation vollständig im Hier und Jetzt hält, ich bin absolut präsent und meine Gedanken voll bei der Sache. Ein Effekt, von dem Extremsportler, die sich von Klippen und aus Flugzeugen stürzen oder mit halsbrecherischen Geschwindigkeiten über Rennstrecken rasen, manchmal berichten. Vermutlich ist genau dieses Gefühl schlussendlich der Auslöser gewesen, dass das Kaltwasserbaden bei mir zur Sucht geworden ist. Warum sollte es mir auch besser ergehen als Wingsuit-Fliegern und Heli-Ski-Fans?
Aber zurück zum Tag 1, dem Badegang, an dem alles begann. Nach einer kleinen Schwimmrunde in Ufernähe paddle ich zurück an den Strand und wuchte mich aus dem Wasser. Überraschung: ich friere gar nicht so arg.
Klar, es ist kalt, sehr kalt sogar, aber ich zittere nicht. Dafür ist meine Haut krebsrot, ein Zeichen für starke Durchblutung. Erst als ich mich wieder in meine Klamotten gehüllt habe und ein Tasse heißen Tees in den Händen halte, setzt ein heftiges Bibbern und Zittern ein. Aber auch das ist irgendwie, nun ja, in Ermangelung eines besseren Wortes verwende ich mal den Begriff „angenehm“! Mein Körper scheint sich in einen Hochofen verwandelt zu haben, der aus allen Rohren feuert. Heißkalte Schauer jagen mir durch den Rücken und die Glieder. Das allein fühlt sich schon gut an, dazu kommt aber noch das Gefühl „es geschafft zu haben“. Der elende Schweinehund ist überlistet, die fette, faule Komfortzone verlassen. Ein feiner Zustand, dessen Wirkung sich durch die Gruppendynamik noch intensiviert. Wir loben uns gegenseitig, klopfen uns auf die Schultern als hätten wir just einen Marathon erfolgreich absolviert. Ich für meinen Teil bin jedenfalls schon lange nicht mehr so beschwingt und gut gelaunt in einen Tag gestartet.

Es ist kein Geheimnis, dass in meinem Fall aus dem ursprünglich als Experiment gestartetem Kaltwasserbade-Versuch schnell eine Leidenschaft wurde. Eine,  die mein Umfeld, das sich nur zögerlich von meinem Warmduscher-Image trennen mag, fortlaufend stark verwundert. Und ich kann es ihnen nicht verdenken, ich bin auch immer noch jedes Mal aufs neue erstaunt, wenn ich mit einem tiefen Atemzug ins kalte Nass tauche. Mittlerweile übrigens auch bei Eis und Schnee und weitaus niedrigeren Temperaturen als damals bei meiner Feuertaufe im regnerischen Morgenbad. Aber neben dem Kick des Augenblicks kann ich mich heute auch noch über ein paar schöne Langzeitfolgen freuen. Seit ich regelmäßig kalt bade bin ich kein einziges Mal krank oder erkältet gewesen. Nicht mal eine Anwandlung eines Schnupfens oder dergleichen. Meine chronischen Rückenschmerzen sind fast vollständig verschwunden. Und meine Allgemeinstimmung hat sich beträchtlich verbessert.

Nur eine Hoffnung hat sich nicht erfüllt: Beim Abnehmen hat das Kaltbaden nichts geholfen. Zumindest nicht bei mir. Es gibt genug Berichte von Leuten, die da mehr Erfolg hatten als ich, aber bei mir tat sich bisher nichts. Vermutlich komme ich um richtigen Sport einfach nicht herum. Aber ein Gutes hat auch das: Wenn jetzt dann nämlich der Frühling kommt und die Gewässer wieder eisfrei und wärmer werden, schwimme ich einfach länger.
Geübt bin ich dann ja.

Zumindest im Aushalten und Genießen der Kälte.

Diesen Beitrag habe ich ursprünglich für Coldwaterforlife.de geschrieben.

0 Kommentare

Schreib was dazu!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Vielleicht auch fein?

Abschied auf Raten

Abschied auf Raten

Dieser Abschied auf Raten macht mich fertig. Ich habe noch 13 Tage auf Bali, den Abreisetag nicht mitgerechnet. Für andere ist das ein ganzer Urlaub, aber für mich fühlt es sich...

mehr lesen
The dark side of the Urlaubsfotos

The dark side of the Urlaubsfotos

Wenn ich mir die Bilder, die ich bisher so mit Euch (hauptsächlich in Instagram-Stories) geteilt habe, dann muss man doch eigentlich zwangsläufig zum Schluss kommen, dass #Bali...

mehr lesen