Deaf and Blind

02. 01. 2010 | Nerdiges | 0 Kommentare

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Sergant Major Mardermolch pflügt mit seinem T90A, einem mühevoll hochgezüchtetem russischem Panzer, den schlecht befestigten Weg zur Bergspitze an der Kaspischen Grenze hinauf. Trügerisch ruhig flattert die amerikanische Flagge im faulen Wind, nichts regt sich ausser ein paar wiegenden Blättern und Grashalmen. Sergant Major Mardermolch bringt den Stahlkoloss direkt neben dem Fahnenmast zum Stehen, der Motor gluckert leise im Leerlauf. Der Countdown beginnt herabzuzählen, der Übernahmevorgang ist eingeleitet. Sergant Major Mardermolch wechselt in die Thermalsicht und scannt seine Umgebung. Plötzlich hält der Countdown an, ein sicheres Zeichen dafür, dass Sergant Major Mardermolch nicht mehr allein auf dem Hügel ist. Jäh rummst es ohrenbetäubend und eine Panzerabwehrrakete schlägt donnernd in den Bug des T90A. Sergant Major Mardermolch reißt hektisch das schwere Kanonenrohr herum und erkennt dank der Thermalsicht zwischen den Bäumen den Übeltäter: Sergant BavarianDesaster vom gegnerischen US-Team will sich da im Gebüsch verkriechen und lädt gerade seine Panzerfaust neu, als ihn das Geschoss des T90A, begleitet von wüsten Verwünschungen über den Voicechat, aus den Stiefeln hebt und Sergeant Major Mardermolch hämisch kichernd seinen wohlverdienten Nemesis-Ribbon erhält. Die Flagge ist mittlerweile auch eingenommen, Sergant Major Mardermolch will gerade anfahren, als ihn die Javelin vom triumphierend johlenden First Sergeant Franckenstein120 mitsamt seinem geliebten Panzer spektakulär in alle Einzelteile zerreisst.

Die Zeit, in der wir uns mit Netzwerksessions die Nächte um die Ohren geschlagen haben, ist längst Geschichte. Mittlerweile dürfte es mindestens 8 Jahre her sein, dass wir das letzte Mal unsere PCs ins Feuerwehrstüberl geschleppt und die eine Hälfte des Abends damit verbracht haben, unsere Mühlen im Netzwerk zum Laufen zu bringen und die andere damit, uns gegenseitig abzuschießen und anzupöbeln. Die Erinnerungen daran sind längst verklärt und zünftig glorifiziert und trotzdem haben wir es nie wieder geschafft, eine Revival-Session auf die Beine zu stellen.

Es fühlt sich auch so an, als wären die Netzwerksessions an sich ausgestorben, ich kenne keinen mehr, der heute noch im lokalen Verbund zockt. Dafür haben sich auch die Spiele zu sehr verändert. Den neueren Werken fehlt allesamt der lokale Netzwerk-Modus und sie fordern fast ausnahmslos eine kontinuierliche Internet-Verbindung. Ich persönlich hatte das Kapitel Zocken am PC schon vor vielen Jahren abgehakt, ab und an vermochten vereinzelte Ausreisser, die alte Glut wieder zu entfachen und mich für ein paar Tage an den Singleplayer-Modus eines PC-Spiels zu binden, die mittlerweile obligatorischen Multiplayer-Modi habe ich aber stets gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Zu frustrierend fielen stichprobenartige Versuchsreihen aus, in denen ich beispielsweise in Starcraft II binnen kürzester Zeit von LOL-Kiddies von der Karte gefegt wurde oder ich in Modern Warfare den Aufwachen-Kopfschuss-Sterben-Tango tanzen musste, weil abartig hochgezüchtete High-Class-Spieler mich als Kanonenfutter missbrauchten. Von dem ganzen MMO-Gedöns wie World of Warcraft und Co. ganz zu schweigen. Ich fühlte mich alt.

Und dann geschah etwas ungeheuerliches. Zwei Freunde, benennen wir sie an dieser Stelle mit ihren Pseudonymen Schneebard und Sharky, schenkten mir Left for Dead II. Im Kern ein simpler Online-Shooter mit einem genialem Twist: statt sich gegeneinander zu beharken, wird man hier in einem maximal vier Spieler großem Team inmitten einer Zombie-Apokalypse ausgesetzt und muss sich durch in mehrere Kapitel aufgeteilte Kampagnen zu deren Ende durchschlagen. Der Clou: es überlebt nur, wer zusammenarbeitet und wegläuft. Denn die Zombie-Horden sind übermächtig, es ist unmöglich, jeden Untoten abzuknallen, geordneter Rückzug und sich dabei gegenseitig decken ist das Gebot der Stunde. Und: das alles geschieht online, jeder von uns sitzt dabei am heimischen PC und brüllt herzhaft ins Headset. Ich hätte zuvor niemals geglaubt, wie viel Spaß das machen kann. Das erste mal seit Jahren habe ich wieder Abende am Stück mit einem PC-Spiel verbracht.

Das war ungefähr zu der Zeit, als Battlefield 3 heraus kam. Seine beiden Vorgänger zockten wir einst intensiv auf unseren Sessions, der neuste Teil versprach, ein Multiplayer-Fest par excellence zu werden. Trotz unverhohlener Skepsis einem reinen Online-Shooter gegenüber rüstete ich meine alte Mühle auf, unterwarf mich der Origin-Online-Geißel und bin der Sucht nun gnadenlos verfallen.
Mittlerweile ist das Deaf and Blind-Platoon auf sechs Mitglieder angewachsen, Sharky weigert sich noch, aber früher oder später wird er sich dem Ruf nicht mehr erwehren können. Dieses blöde Spiel macht das aber auch ungemein geschickt. Anders als die früheren Teile kommt Battlefield 3 mit einem ausgefuchsten Talent-System daher, das die Motivations-Karotte nahezu perfekt zu handhaben weiß. Man startet als blutiger Rekrut, der gnädigerweise statt einem Stock ein klappriges Gewehr in die Hand gedrückt bekommt und sich zunächst einmal mit minimalistischster Ausrüstung behaupten muss. Das bedeutet, Zielen über Kimme und Korn, keine Täuschkörper in Fahr- und Flugzeugen, geschweige denn effektive Waffensysteme, völlige Orientierungslosigkeit auf den teilweise riesigen Karten. Wer hier keine erfahrenen Teamkameraden an seiner Seite hat, ist so gut wie aufgeschmissen oder muss großem Leidensdruck standhalten. Was anfangs nach deftiger Ungerechtigkeit riecht, entpuppt sich jedoch schnell als steile Lernkurve. Es dauert nicht lange, bis die ersten nützlichen Upgrades frei geschaltet sind. Ein Reflex-Visier fürs Gewehr? Prima! Wärmesuchende Raketen für den Kampfhubschrauber? Sauber! Und mit jedem Levelaufstieg steigt der eigene Rang, nach und nach kennt man sich auf den Karten aus und immer öfter steht der eigene Name an der Spitze der Ranglisten. Folglich spezialisiert sich dann jeder auf die Spielweise, die ihm am meisten liegt. Der eine lässt’s gern knallen und rennt, beziehungsweise fährt, ausschließlich mit oder im schweren Gerät herum, wieder andere mögen es gerne hinterpfotzig und sind vorrangig als Aufklärer mit Scharfschützengewehr unterwegs und die pazifistischer Veranlagten bilden mit dem Sanitäter das Rückrat, heilen und beleben gefallene Kameraden wieder. Noch einen Tacken anspruchsvoller sind die vielfältigen Fluggeräte: anfangs extrem frustrierend und hakelig zu beherrschen, machen Jets und Helikopter nach dieser Einstiegshürde unglaublich viel Spaß und nichts ist befriedigender, als nach endlosen Niederlagen endlich den Knoten platzen zu lassen und den Luftraum über dem Schlachtfeld dominieren zu können. Die große Stärke von Battlefield 3 ist, dass in einer einzigen Runde sowohl ein gnadenloser Luftkampf weit über dem eigentlichem Geschehen toben kann, während sich unten ein paar Pioniere in einem zerschossenem Gebäude vor einem Panzer verstecken und nur ein paar Meter weiter ein wildes Schießduell zwischen zwei maschinenpistolenbewehrten Geländebuggys ausgetragen wird. Kurzum, es ist immer irgendwo etwas los. Die wenigen Schwachpunkte wie das teilweise schlechte Auto-Balancing unter den Mannschaften oder das unfaire Spawnverhalten nach Spieleinstieg vorm feindlichen Gewehrlauf können den Spaß nur unwesentlich trüben.

Sollte sich ein neugieriger Unbedarfter tatsächlich bis zu dieser Stelle durchgekämpft haben, könnte sich ihm vielleicht die ein oder andere Frage aufdrängen. Zum Beispiel, ob das nicht moralisch verwerflich ist, Krieg zu spielen, noch dazu, wenn er so realistisch dargestellt wird, wie in Battlefield 3. Nun, das Thema Realität ist nicht von der Hand zu weisen. Die Grafik des Spiels ist streckenweise nahezu fotorealistisch, sogar Partikel auf der Linse werden beim Blick in die fantastisch animierte Sonne simuliert. In einem entscheidendem Punkt haben sich die Designer aber dankenswerterweise zurückgehalten: in den Todesanimationen. Blut dient lediglich als Messwert dafür, dass der Gegner getroffen wurde, es gibt keine Schadensanimationen, kein Ragdoll-System, keine abtrennbaren Gliedmaßen. Zudem kommt einem als Zuschauer das Geschehen viel drastischer vor, als dem Spieler selbst. Denn der hat meist gar keine Zeit zu hinterfragen, alles was zählt, ist Schnelligkeit und taktisches Vorgehen im Team. Es geht eben nicht darum, den Gegner möglichst effektvoll zu zerlegen und auszuweiden, sondern sich innerhalb einer virtuellen Wert mit den gegebenen Werkzeugen und ausgewiesenen Regeln auf Grund der eigenen spielerischen Fähigkeiten zu behaupten. Auch wenn es hier sicherlich etwas schwammig zu werden droht, das Szenario baut Atmosphäre auf und dient vorrangig als Aufhänger, als Basis für ein Spielkonzept, das zeitlos ist und seiner Grundform in nahezu allen Sportarten zu finden ist: zwei Mannschaften messen sich und spielen den Sieg aus. Entscheidend ist Zusammenspiel, Aufstellung und Taktik, die Mittel, seien es Fußball, Fäuste oder eben virtuelle Gewehre, ist der Schmuck drum herum.
Den martialischen Scharm, der von hochgezüchtetem Kriegsgerät vor allem auf uns urinstikt-getriebene Männer ausgeht, ist natürlich auch nicht von der Hand zu weisen. Würden alle Kriege dieser Welt virtuell in Form eines Spiels ausgetragen werden, sie wäre ein besserer Ort.

Die zweite Frage könnte auf den Zeitverlust abzielen. Ich selbst habe bereits mehr als 60 Stunden mit Battlefield 3 verbracht, so viel, wie mit noch keinem anderen Videospiel zuvor. Was hätte ich in dieser Zeit kreativ sein können. Webseiten erschaffen, Fotografien anfertigen, Bücher schreiben, Mädchen daten. Und doch tut es mir um keine Sekunde leid. Denn zum einen finde ich zusätzlich immer noch genug Zeit für meine Kreativität (meist zu Lasten meiner Nachtruhe), zweitens spiele ich so gut wie nie (lange) alleine (ich habe nicht mal die dazugehörige Singleplayer-Kampagne beendet). Vor allem dieses Teamspiel mit meinen Freunden würzt die ganze Angelegenheit, hat mir den ein oder anderen melancholisch zu werdenden Vorweihnachtsabend gerettet und ist irgendwie wie ein Kneipenbesuch: man spielt und ratscht zusammen und verbringt soviel Zeit miteinander, wie man es ohne dieses vermaledeite Spiel niemals tun würde.

Ich bin mir übrigens ziemlich sicher, dass das für alle (Online-)Spiele gilt, die man zusammen mit Freunden spielt. Das sage ich jetzt, damit das hier nicht zu sehr in eine Battlefield-3-Arie ausartet, bei mir war halt jenes der Augenöffner.

Und nun habe ich mein schlechtes Gewissen besänftigt und aus 60 Stunden Spielzeit immerhin einen überlangen Artikel gezimmert. Vielleicht kann der ja noch den ein oder anderen von Euch für das Deaf and Blind-Platoon überzeugen und bevor ich’s vergesse: Recruit Sharky, SCHWINGEN SIE ENDLICH IHREN HINTERN INS SPIEL ODER WIR ZIEHEN IHNEN DIE HAMMELBEINE LANG!

Master Gunnery Sergant Schneebard ist am verzweifeln. Das Deaf and Blind-Platoon wird seinem Namen wieder mehr als gerecht. Sergant Major Mardermolch ist einmal mehr blind (und taub) vorgestürmt und hat sich bereits über den Haufen schießen lassen, was zu einer empfindlichen Lücke im Squad-Verbund führt und es den lauernden Gegnern erlaubt, mit ein paar gezielten Salven auch den Rest des Teams auszuschalten (Zitat Schneebard: „Einmal mit Profis spielen!“). Eigentlich gälte es, auf der Karte Damavand Peak auf Seiten der Angreifer die ersten beiden M-Coms auszuschalten, der Angriff kommt aber gar nicht erst ins Rollen, da die Verteidiger den steilen Hang, den die Angreifer hinabstürmen müssen, mit einer Übermacht an Scharfschützen in Schach halten. Einer nach dem anderem der ziellos vorrückenden Soldaten fällt im Kugelhagel. Master Gunnery Sergant Schneebard spricht ein Machtwort und versammelt sein Team in einem HMMWV, den Master Gunnery Sergeant Nippon-2 querfeldein und seiner Fahrweise aus dem echten Leben entsprechend den Hang hinab durch den Kugelhagel Richtung M-Com A lenkt. Das Fahrzeug ist Schrott, die Nerven liegen blank, jeder brüllt ihn sein Mikrofon, Master Gunnery Sergeant Nippon-2 und First Sergeant Franckenstein120 fallen im Kugelhagel vor den M-Coms, schalten aber noch die beiden campenden Verteidiger aus, was Sergant BavarianDesaster ermöglicht, den Sprengsatz an der Computerkonsole zu aktivieren, während Sergant Major Mardermolch die beiden gefallenen Kameraden wieder belebt und Master Gunnery Sergant Schneebard und Corporal Hoppsae anrückende Feindscharen aus der Deckung beharken. Sekunden werden zu Minuten, quälend langsam läuft der Countdown des Sprengsatzes ab, mündet schließlich in einen nervenden hochfrequenten Warnton, der die unmittelbar bevorstehende Sprengung ankündigt und bäähm, das vermaldeteite Ding geht endlich hoch. Geschafft, erleichterter Jubel dröhnt aus den Lautsprechern, ein Hoch auf die dicken Eier! Zeit zum Durchatmen bleibt den taffen Mannen jedoch nicht, es bleiben immer noch fünf Ziele übrig…

Anmerkung: die Ereignisse in den beiden kursiven Texten haben sich allesamt so und jüngst in Battlefield 3 zugetragen, vielleicht nicht ganz in dieser Konstellation und Reihenfolge, aber meine Team-Kameraden lassen mir diese künstlerische Freiheit sicher durchgehen…

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