Wundersame Geschichten aus dem Reich der Mitte, Teil 6

28. 04. 2011 | Literarisches | 5 Kommentare

Wie ich einmal die Tochter eines alten Fischers aus der Unterwelt befreit habe.

Wann immer es ging, wanderte ich auf meinen Reisen durch das Land der Mitte am Meer vorbei. Ich mochte den salzigen Geruch in der Nase und die Brise auf der Haut und mich ergriff stets eine Wehmut, wenn ich beim Wandern hinaus auf die tanzenden Wellen blickte. Es heißt so oft, man müsse gegen denn Strom schwimmen um an die Quelle zu gelangen. Aber wollen wir am Ende nicht doch alle nur ans Meer?

Eines Abends gelangte ich an der Küste der ostchinesischen See zu einer kleinen Bucht, in der sich eine recht baufällige, aber heimlig wirkende Fischerhütte in den feinen Sand duckte. An einem Feuer saß ein alter Mann und weinte bitterlich.
Ich setzte mich zu ihm und fragte ihn nach dem Grund für seine Trauer. Da erzählte er mir, dass er seine geliebte Tochter verloren habe. Sie sei beim Fischen aus Unachtsamkeit ins Meer gestürzt und ehe er sie ergreifen konnte, sei sie in die Tiefe versunken und nun wahrscheinlich tot. Das Leid des alten Fischers ging mir ordentlich nahe und ich beschloss, ihm zu helfen. Bei einem alten K’ung-tzû1 hatte ich jüngst erst die Kunst erlernt, ins Reich der Toten hinabzusteigen. Und einen frisch Dahingeschiedenen könne man, so der K’ung-tzû, mit diesem Wissen noch einmal zurück ins Leben holen. Da kam mir diese Gelegenheit durchaus günstig, denn ich wollte da unten ohnehin noch etwas überprüfen.

Ich ließ mir also vom Fischer das Aussehen seiner Tochter beschreiben (Ihr ahnt es vielleicht bereits: natürlich war sie eine ausgesuchte Schönheit. Zierlich, elfenhaft, nach Vanille duftend, das Übliche eben. Aber halt auch blond), zog mich aus und legte mich in den kühlen Sand neben das Feuer. Beim Meditieren ins Totenreich kommt es darauf an, sich seiner selbst so sehr bewusst zu werden, dass der Körper glaubt, überflüssig zu sein und den Geist ziehen lässt. Dann muss man nur noch an den jeweiligen Todesboten derjenigen Unterwelt, in die man reisen möchte, denken und ihn verspotten. Im Reich der Mitte ist das der gänzlich unwesentliche und dauergeile Pandabär Lu-Tschi Ao und den zu verspotten ist nun wirklich ein leichtes, das könnt Ihr mir glauben2.
Ehe ich mich versah stand ich schon an der großen Steintreppe und stieg hinab in die Finsternis.

Die meisten von uns haben über das Totenreich recht klare Vorstellungen. Oft handeln diese von Dunkelheit, Feuer, Hitze und Folterinstrumenten. Tatsächlich gelangt in diese speziellen Arten der Unterwelt nur eine sehr kleine und elitäre Gruppe3, der Rest erlebt diese Orte je nach Religion und Weltanschauung eher wie eine Art ewigen Stammtisch. Das Licht ist gedämpft, es herrscht eine Atmosphäre wie in einer besseren Hotellobby mit roten Teppichen und Polstern an den Wänden, sogar an ein Piano wurde gedacht. Kellner reichen Erdnüsse und kernlose Oliven, die auf kleine Zahnstocher gespießt wurden, die Toten stehen und sitzen in kleinen Gruppen beieinander und debattieren. Man sollte sich aus derlei Gesprächen tunlichst heraushalten, denn sie muten oftmals äußerst interessant an und so vergisst der Lebende nur zu gern, dass die Uhren bei den Toten anders ticken. Konfuzius sagte schon, dass Erfahrung wie eine Laterne am Rücken ist, denn sie beleuchtet nur den Teil des Weges, der schon hinter uns liegt. Tote hingegen sind in dieser Hinsicht mit einer 5000 Watt-Rundum-Beleuchtung ausgestattet. Den Fehler, mit einem von ihnen über das Ei-Henne-Prinzip diskutieren zu wollen begeht man nur einmal und spart sich dann gleich das ganze lästige Prozedere des Sterbens wenn man eh schonmal hier ist.

Mein Problem war nur: Um die Tochter des Fischer in diesem unendlichem Raum finden zu können, musste ich mir eine Auskunft einholen. Ich entschied mich für den Barkeeper, einen langweilig aussehenden, etwas untersetzt wirkenden Kerl mit leicht schütterem und mit Melkfett zurück gestrichenem Haar. Er polierte gerade lustlos ein Glas, als ich ihm die Beschreibung des Mädchens vortrug. Er sah mich mich traurigen Schweinsäuglein an und murmelte: „Reisender, Hoffnung ist wie Zucker im Tee: zwar klein, aber sie versüßt alles.“ Ich verstand den Hinweis, drehte mich um und sah eine blonde junge Frau alleine an einem der Tische sitzen. Tränen kullerten ihr über die Wangen und platschten in eine leere Tasse, die vor ihr stand. Sie hatten den eingetrockneten Rand, den der Kirschblütentee hinterlassen hatte, fast fortgespült. Ich identifizierte sie sofort als die Tochter des Fischers und berührte sie sanft an der Schulter. Sie sah mich an, lächelte und fiel mir in die Arme. Sie vergrub das Gesicht in meiner Jacke wie ein Kind, das glaubt, wenn es die Monster nicht mehr sieht, sehen diese auch sie nicht mehr. Nun musste ich nur noch eine Kleinigkeit erledigen.

Je länger man sich in einer Unterwelt aufhält, desto mehr fängt deren Gefüge an, sich des Eindringlings zu erwehren. Ist man darauf nicht vorbereitet, bedient sie sich der persönlichen Albträume und treibt einen in den Wahnsinn indem sie ihm verwesende Schwiegermütter und verstrahlte Tintenfische mit Cowboyhüten auf den Hals hetzt. Wenn man damit allerdings bereits rechnet, es sogar erwartet, kann man diesen hinterhältigen Angriff einer Unterwelt zum eignen Vorteil nutzen. Und somit begann es auf meinem Weg zurück rosarote Kirschblütenblätter zu regnen, das Hotel verwandelte sich von der Lobby hin zu jenem ganz bestimmten Hain im späten Sommerlicht und ich sah sie noch einmal am Ufer des kleinen Sees sitzen und wusste mit unerschütterlicher Gewissheit, dass ich sie auf ewig verloren hatte.
Nur das zitternde Mädchen in meinen Armen hielt mich wohl damals davon ab, nicht doch noch zum schweinsäugigem Barkeeper zurückzukehren und ihn zu fragen, warum man einen Edelstein nicht blank machen kann, ohne ihn zu reiben4.

Als wir die Treppe schließlich hinter uns gebracht hatten5, entließ ich die Tochter des Fischers in den dunstigen Äther, der das Dies- mit dem Jenseits verbindet und konzentrierte mich wieder auf meinen Körper, ehe dem vielleicht der Gedanke käme, das er auch ohne Geist ganz gut klar kommt.

Im nächsten Moment fand ich mich wieder im Sand neben dem prasselndem Feuer. Im seichten Wasser des Strandes saß triefnass hustend und wasserspuckend ein blondes Mädchen, der Fischer war ihr um den Hals gefallen und dieses mal weinte er Tränen des Glücks. Wir saßen in dieser Nacht noch lange am Lagerfeuer, der Fischer und seine Tochter Arm in Arm und ich alleine in der sternenklaren Nacht, und ich erzählte ihnen von all meinen Abenteuern und ausnahmsweise auch von jenen, die erst noch kommen würden.

_______________

  1. Die richtig guten Gelehrten sind heutzutage schwer zu finden. Es lohnt sich immer, nach Tonnen Ausschau zu halten oder interessante Höhlen zu erkunden. Ich bin einigen dieser Leute begegnet und zur Erkenntnis gelangt, das echtes Wissen nur dann ist, wenn Du das, was Du weißt, als Wissen erkennst, und das, was Du nicht weißt, als Nichtwissen akzeptierst. Und mindestens zwei verschiedene Rezepte für eine leckere Pilzpfanne kennst.
  2. Im Prinzip genügt es bereits, ihn auf seinen albernen Hut anzusprechen, ein halber Schildkrötenpanzer, in den er sich Fansanenfedern gesteckt hat. Weitaus schwieriger wäre es gewesen, beispielsweise in die afrikanische Unterwelt einzudringen. Den dort wachenden Werbiber mit dem Stinktierschwanz ordnungsgemäß zu verspotten bekommen nur die mutigsten Unterwelt-Abenteurer hin.
  3. Nämlich Diktatoren, Türsteher und Lehrer.
  4. Ich halte es für angebracht, darauf hinzuweisen, dass mir der schuppige Kindersegen, der sich nur ein paar Monate später im kleinem Tümpel eingestellt hatte, durch diese Wendung des Schicksals erspart geblieben ist. Wer weiß, wie mir geschehen wäre, wenn ich ins andere Hosenbein der Zeit gefallen wäre.
  5. die Legende, dass man sich beim Verlassen der Unterwelt nicht umsehen dürfe, ist übrigens Humbug. Das mit dem Umsehen war einst eher als gut gemeinter Ratschlag gedacht, denn wer nach hinten guckt, sieht nicht was vor ihm geschieht und neigt dazu, über seine eigenen Füße zu stolpern. Und weil die meisten Unterwelt-Touristen eben nicht von der gedankenverzehrenden Abwehrreaktion wissen, stolpern sie reihenweise beim ängstlichen Blick über die Schulter und verschwinden im Tentakelgewirr strahlender Oktopoden.

5 Kommentare

  1. Gerda

    … ich bin überrascht!

    Keine asiatische Schar von Nymphomaninnen, die Du der Reihe nach vernaschen musst um den Gesetzen der Gastfreundschaft gerecht zu werden. Keine weiblichen Drachen oder blutrünstige vollbrüstige Weiblichkeiten, die Dein Leben verschonen, wenn Du sie ständig begattest … Respekt : ) )

    Oder war die Mischung in der Wasserpfeife nur falsch dosiert ???

    Antworten
    • Andi

      Ich bin doch nicht nekrophil…

      Antworten
  2. Gerda

    Naja in der Geschichte warst Du ja auch ein Zombie … für kurze Zeit

    Antworten
    • Andi

      Nein, das siehst Du falsch. Ein Zombie ist per definitionem eine verwirrte Seele, die auf dem Weg zum Klo versehentlich den Dienstboten-Eingang erwischt hat und umgekehrt chronologisch einen fremden Körper bezieht. Je länger ein Zombie lebt, desto klüger müsste er also werden. Leider werden die meisten Zombies vorher von einem Rasenmäher oder einer Kettensäge dahingestreckt.

      Antworten
  3. Gerda

    gut … dann bin ich umzingelt … ich brauch sofort eine Kettensäge …

    Antworten

Schreib was dazu!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Vielleicht auch fein?

Abschied auf Raten

Abschied auf Raten

Dieser Abschied auf Raten macht mich fertig. Ich habe noch 13 Tage auf Bali, den Abreisetag nicht mitgerechnet. Für andere ist das ein ganzer Urlaub, aber für mich fühlt es sich...

mehr lesen
The dark side of the Urlaubsfotos

The dark side of the Urlaubsfotos

Wenn ich mir die Bilder, die ich bisher so mit Euch (hauptsächlich in Instagram-Stories) geteilt habe, dann muss man doch eigentlich zwangsläufig zum Schluss kommen, dass #Bali...

mehr lesen